„Der vermessene Mensch“ ist der erste Kinofilm über den Völkermord an den Herero und Nama. Regisseur Lars Kraume („Der Staat gegen Fritz Bauer“, „Das schweigende Klassenzimmer“) arbeitete dabei eng mit Namibianer*innen zusammen, die beeindruckende Darstellerin Girley Charlene Jazama ist eine Herero. So beutet der Film die Geschichte der Opfer nicht aus – und zeigt die Gräuel der Kolonialverbrechen dennoch schonungslos. Bereits am Anfang des Films werden die Schrecken eines pseudowissenschaftlichen Rassismus gezeigt. Studenten untersuchen eine Delegation der Herero, vermessen ihre Schädel, zählen ihre Zähne. Der ehrgeizige Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) glaubt weder an die gängige Rassenlehre noch an unterschiedliche Schädelgrößen. Bei einer Völkerkundeschau in Berlin lernt er die Herero‐Frau Kunouje (die erwähnte Girley Charlene Jazama) kennen, sein wissenschaftliches Interessen verwandelt sich in Zuneigung zu ihr. Er reist selbst nach Deutsch‐Südwestafrika, wo die Herero und Nama sich gegen die deutschen Kolonisatoren wehren und es zum Krieg kommt. Dort wird er Zeuge von grausamen Verbrechen. Getrieben von Ehrgeiz und wissenschaftlichem Interesse überschreitet er moralische Grenzen. Nur sehr langsam findet der Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 einen Platz in der deutschen Geschichtsschreibung. Zwischen 40.000 und 60.000 Herero und 10.000 Nama wurden unter dem Befehl des Generalleutnant Lothar von Trotha ermordet. Sie wurden zum Verdursten in die Omaheke‐Wüste getrieben oder in Konzentrationslagern vernichtet. Erst in den letzten Jahren, vorangetrieben durch die teilweise Anerkennung des Völkermords durch die Bundesregierung und die Debatte rund um die Rückgabe kolonialer Raubgüter, scheint sich Deutschland seiner Kolonialvergangenheit bewusst zu werden. Dies macht den Film so wichtig. „Der vermessene Mensch“ ist eine schockierende Geschichtsstunde, ohne jede angestaubte Langeweile, die man damit aus dem Schulunterricht verbindet — wo der deutsche Kolonialismus im Übrigen kaum einen Platz findet. Zwar verlässt der Film die weiße Perspektive nicht, vermag es aber dennoch, den Schrecken dieses Blickes sichtbar zu machen. Der Film präsentiert, was der postkoloniale Denker Aimé Cesaire beschreibt: „Der Kolonisator, der im anderen Menschen ein Tier sieht, nur um sich selber ein ruhiges Gewissen zu verschaffen, dieser Kolonisator wird objektiv dahingebracht, sich selbst in ein Tier zu verwandeln.“ Ungeschönt führt der Film die Bestialität des Kolonialismus vor und verbindet sie mit dem individuellen moralischen Scheitern. Kaum ein deutscher Film der letzten Jahre ist so wichtig. Sparen Sie sich den Gang ins Humboldt‐Forum oder das Völkerkundemuseum ihrer Wahl — gehen Sie ins Kino und sehen sich „Der vermessene Mensch“ an.